ÜBER STOCK UND STEIN
Eragon und
Nar Garzhvog rannten den Rest des Tages, die ganze Nacht hindurch,
und liefen auch am nächsten Morgen ohne Pause weiter. Nur um etwas
zu trinken, blieben sie stehen.
Am frühen Abend des zweiten Tages sagte der
Kull schließlich: »Feuerschwert, ich muss etwas essen und
schlafen.«
Keuchend lehnte Eragon sich an einen
Baumstamm und nickte. Er hatte es nicht als Erster aussprechen
wollen, aber er war genauso hungrig und erschöpft wie der Kull.
Bald nach ihrem Aufbruch von den Varden hatte sich herausgestellt,
dass er auf den ersten fünf Meilen schneller war als der Urgal,
aber dass danach Garzhvogs Ausdauer ebenso groß oder sogar größer
war als seine eigene.
»Ich helfe dir beim Jagen«, sagte er.
»Das ist nicht nötig. Mach du das Feuer, ich
besorge das Essen.«
»Gut.«
Während Garzhvog in nördlicher Richtung auf
einen Rotbuchenhain zumarschierte, öffnete Eragon den Tragegurt um
seine Hüfte und stellte mit einem erleichterten Seufzer den
Rucksack ab. »Verdammte Rüstung«, murmelte er. Selbst im Imperium
war er nicht so lange an einem Stück mit so schwerem Gepäck
gelaufen. Ihm war nicht klar gewesen, wie anstrengend es sein
würde. Die Füße schmerzten, die Beine schmerzten, der Rücken
schmerzte, und als er sich hinsetzen wollte, wollten seine Knie
sich nicht richtig beugen.
Er versuchte, die Schmerzen zu ignorieren,
und sammelte für das Lagerfeuer Gras und abgestorbene Äste, die er
an einer trockenen, steinigen Stelle aufschichtete.
Sie waren irgendwo östlich der Südspitze des
Sees Tüdosten. Der Boden war feucht und üppig. Auf den weiten
Flächen mit sechs Fuß hohem Gras wanderten Hirschherden, Gazellen
und wilde schwarze Ochsen mit breiten, nach hinten gebogenen
Hörnern umher. Den Reichtum der Natur verdankte das Land dem
Beor-Gebirge, über dem sich dichte Wolkenbänke sammelten, die
anschließend weit auf die Ebenen hinaustrieben und über Gegenden
abregneten, die ohne den Niederschlag genauso trocken gewesen wären
wie die Hadarac-Wüste.
Obwohl sie bereits eine gewaltige Strecke
zurückgelegt hatten, war Eragon nicht zufrieden. Zwischen dem
Jiet-Strom und dem See Tüdosten hatten sie mehrere Stunden
verloren, da sie sich versteckt halten und Umwege auf sich nehmen
mussten, um nicht gesehen zu werden. Nachdem der See nun hinter
ihnen lag, hoffte er, dass sie wieder schneller vorankommen
würden. Die Verzögerungen hat Nasuada
nicht vorhergesehen, was? Natürlich nicht. Sie hat geglaubt, ich
könnte nach Farthen Dûr durchrennen. Ha! Er trat einen
Ast aus dem Weg und sammelte unter mürrischem Brummeln weiter
Brennholz.
Als nach einer Stunde Garzhvog zurückkehrte,
brannte auf einer zwei mal drei Fuß großen Fläche ein Lagerfeuer.
Eragon saß davor, starrte in die Flammen und versuchte, nicht in
die Wachträume hinüberzugleiten, die ihm den Schlaf
ersetzten.
Garzhvog kam heran, eine fette Hirschkuh
unter dem Arm. Er hob sie so mühelos hoch wie ein leeres
Stoffbündel und verkeilte ihren Kopf in der Astgabel eines Baumes,
zwanzig Schritte vom Feuer entfernt. Dann holte er ein Messer
hervor und begann, dem Tier die Haut abzuziehen.
Eragon stand auf, wobei sich seine Gelenke
anfühlten, als wären sie versteinert, und schritt ungelenk auf den
Kull zu.
»Wie hast du sie erlegt?«
»Mit meiner Schleuder«, brummte
Garzhvog.
»Braten wir sie am Spieß? Oder essen Urgals
ihr Fleisch roh?«
Garzhvog wandte den Kopf ein wenig und
musterte ihn durch die Windungen seines einen Horns. In dem tief
liegenden gelben Auge flackerte ein Ausdruck, den Eragon nicht zu
deuten vermochte. »Wir sind keine Tiere, Feuerschwert.«
»Das habe ich auch nicht behauptet.«
Grollend machte der Urgal sich ans
Werk.
»Am Spieß dauert es zu lange«, sagte
Eragon.
»Ich dachte an einen Eintopf und den Rest
braten wir auf einem Stein.«
»Ein Eintopf? Wie? Wir haben doch gar keinen
Topf.«
Garzhvog wischte sich am Boden die rechte
Hand ab, dann zog er ein gefaltetes Bündel aus dem Beutel an seinem
Gürtel. Er warf es Eragon zu.
Der versuchte, es zu fangen, griff aber vor
lauter Müdigkeit daneben und das Bündel fiel auf die Erde. Es sah
aus wie ein ungewöhnlich großer Pergamentbogen. Als er es aufhob,
entfaltete es sich, und Eragon erkannte, dass es eine Art Beutel
war, vielleicht anderthalb Fuß breit und drei Fuß tief. Der Rand
der Öffnung war mit einem Lederstreifen verstärkt, an den mehrere
Metallringe angenäht waren. Er drehte den Behälter um, erstaunt,
wie weich er war und dass es offenbar keine Nähte gab.
»Was ist das?«, fragte er.
»Der Magen eines Höhlenbären, den ich in dem
Jahr getötet habe, als ich meine Hörner bekam. Man hängt ihn
irgendwo auf oder legt ihn in eine Grube, füllt ihn mit Wasser und
legt heiße Steine hinein. Die Steine erhitzen das Wasser und der
Eintopf schmeckt gut.«
»Brennen die Steine keine Löcher in die
Magenhaut?«
»Bis jetzt noch nicht.«
»Ist er verzaubert?«
»Keine Magie. Nur ein starker Magen.«
Garzhvog schnaubte, als er die Hüften der Hirschkuh packte und mit
einem einzigen kurzen Ruck das Becken auseinanderriss. Den
Brustkorb brach er mit dem Messer auf.
»Muss aber ein großer Bär gewesen
sein.«
Garzhvog lachte und es klang wie ferner
Donner. »Er war größer, als ich es heute bin, Schattentöter.«
»Hast du ihn auch mit deiner Schleuder
erlegt?«
»Ich habe ihn mit bloßen Händen erwürgt.
Waffen sind nicht erlaubt, wenn wir unseren Mut beweisen müssen, um
Männer zu werden.« Garzhvog hielt einen Moment inne, sein Messer
steckte bis zum Griff im Rumpf der Hirschkuh. »Kaum jemand wagt
sich an einen Höhlenbären. Die meisten jagen Wölfe oder Bergziegen.
Deshalb bin auch ich der Anführer und kein anderer.«
Eragon ließ den Kull das Fleisch
vorbereiten, während er neben dem Feuer eine kleine Grube aushob,
in die er den Bärenmagen legte. Mit Zweigen, die er durch die
Metallringe in die Erde steckte, sorgte er dafür, dass er nicht
verrutschen konnte. Er sammelte ein Dutzend apfelgroßer Steine und
warf sie ins Feuer. Während sie langsam heiß wurden, füllte er mit
Magie den Magen zu zwei Dritteln mit Wasser und fertigte dann aus
zwei Weidenästen, die er mit einem Stück Leder verknüpfte, eine
Greifzange.
Als die Steine rot glühten, rief er: »Sie
sind so weit!«
»Dann leg sie hinein«, sagte Garzhvog.
Mit der Zange fischte Eragon den ersten
Stein aus dem Feuer und ließ ihn in den Bärenmagen fallen. Heißer
Dampf schoss auf, sobald der Stein mit dem Wasser in Berührung kam.
Er beförderte zwei weitere Steine in den Magen, die das Wasser zum
Kochen brachten.
Garzhvog kam herübergestapft und warf zwei
Hände Fleisch ins Wasser. Dann würzte er den Eintopf mit einer
kräftigen Prise Salz aus dem Beutel an seinem Gürtel sowie mehreren
Rosmarinzweigen, Thymian und anderen Kräutern, die er während der
Jagd gesammelt hatte. Anschließend schob er einen flachen Stein
direkt ans Feuer. Als er heiß war, legte er Fleischstreifen zum
Braten darauf.
Während das Essen gar wurde, schnitzten sich
Eragon und der Kull Löffel aus dem Holz des Baumstumpfs, auf dem
Eragon seinen Rucksack abgestellt hatte.
Vor lauter Hunger kam es ihm viel länger
vor, aber es dauerte nur einige Minuten, bis die Mahlzeit fertig
war. Sie schlangen das Essen hinunter wie hungrige Wölfe. Eragon
stopfte doppelt so viel in sich hinein, wie er jemals auf einmal
gegessen hatte. Was er nicht schaffte, verschlang Garzhvog, dessen
Portion sechs kräftige Männer satt gemacht hätte.
Nach dem Festschmaus sank Eragon zurück und
beobachtete, auf die Ellbogen gestützt, die Glühwürmchen, die
zwischen den Buchen durch die Luft schwirrten. Irgendwo schrie eine
Eule. Am purpurnen Himmel blinkten die ersten Sterne.
Er dachte erst an Saphira, dann an Arya und
dann an beide. Er schloss die Augen, als es hinter seinen Schläfen
dumpf zu pochen begann. Dann hörte er ein Knacken, machte die Augen
wieder auf und sah, dass Garzhvog sich mit dem spitzen Ende eines
abgebrochenen Oberschenkelknochens die Fleischreste zwischen den
Zähnen herauskratzte. Eragons Blick wanderte zu den nackten Füßen
des Urgals - er hatte sich vor dem Essen die Sandalen ausgezogen -,
und er bemerkte überrascht, dass jeder seiner Füße sieben Zehen
hatte.
»Wie bei den Zwergen«, sagte er. »Die haben
auch sieben Zehen.«
Garzhvog spuckte einen Fleischbatzen ins
Feuer. »Das hab ich gar nicht gewusst. Ich hab noch nie einem Zwerg
auf die Füße geschaut.«
»Findest du es nicht seltsam, dass Urgals
und Zwerge vierzehn Zehen haben, Menschen und Elfen aber nur
zehn?«
Garzhvog verzog die wulstigen Lippen.
»Zwischen uns und den hornlosen Bergratten gibt es keine
Blutsbande, Feuerschwert. Beide Völker haben vierzehn Zehen, na
gut. Es gefiel den Göttern so, als sie die Welt erschufen. Eine
andere Erklärung gibt es dafür nicht.«
Eragon brummte daraufhin etwas
Unverständliches und beobachtete wieder die Glühwürmchen. Nach
einer Weile sagte er: »Erzähl mir eine Geschichte, die dein Volk
gerne hört, Nar Garzhvog.«
Der Kull überlegte einen Moment, dann nahm
er den Knochensplitter aus dem Mund. »Vor langer Zeit lebte eine
junge Urgralgra, die Maghara hieß. Ihre Hörner schimmerten wie
polierter Stein, das Haar reichte ihr bis zu den Hüften und ihr
Lachen konnte die Vögel aus den Bäumen herauslocken. Aber sie war
nicht hübsch. Sie war hässlich. In ihrem Dorf, da lebte ein großer
Krieger, der bereits viele Feinde im Kampf besiegt und getötet
hatte. Aber obwohl er durch seine Heldentaten großes Ansehen
erlangt hatte, besaß er noch keine Brutpartnerin. Maghara wünschte
sich nichts sehnlicher, als diese Gefährtin für ihn zu sein. Aber
weil sie so hässlich war, beachtete der Krieger sie nicht. Und
deshalb bemerkte er auch nicht ihre schimmernden Hörner und das
lange Haar und hörte nicht ihr liebliches Lachen. Vor lauter Kummer
darüber stieg Maghara auf den höchsten Berg im Buckel und rief
Rahna um Hilfe an. Rahna ist unsere Große Mutter, die das Weben und
die Viehzucht erfand und auf ihrer Flucht vor dem großen Drachen
das Beor-Gebirge entstehen ließ. Rahna, die Göttin mit den goldenen
Hörnern, erschien und fragte Maghara, weshalb sie sie gerufen habe.
›Mach mich schön, Große Mutter, damit der Gehörnte, den ich will,
mich zur Brutpartnerin wählt‹, antwortete Maghara. Und die Göttin
entgegnete: ›Du musst nicht schön sein, Maghara. Du hast
schimmernde Hörner, langes Haar und ein liebliches Lachen. Damit
kannst du einen Krieger für dich gewinnen, der nicht so töricht
ist, nur dein Gesicht zu sehen.‹ Da warf Maghara sich zu Boden und
rief: ›Ich will aber diesen Gehörnten, sonst kann ich nicht
glücklich werden, Große Mutter. Bitte, mach mich schön.‹ Lächelnd
entgegnete Rahna: ›Wenn ich dir diesen Gefallen tue, Kind, wie
wirst du mich dann entlohnen?‹ Und Maghara antwortete. ›Ich gebe
dir alles, was du willst.‹
Rahna nahm das Angebot an und machte Maghara
schön. Als die Urgralgra ins Dorf zurückkehrte, wunderte man sich
über ihre plötzliche Schönheit. Mit dem neuen Antlitz wurde Maghara
die Brutpartnerin ihres Auserwählten. Die beiden zeugten viele
Kinder und lebten sieben Jahre glücklich zusammen. Dann erschien
Rahna vor Maghara und sagte: ›Du hast sieben Jahre mit dem
Gehörnten verbracht, den du so sehr wolltest. Hast du die Zeit
genossen? ‹ Die Urgralgra antwortete: ›Ja, das habe ich.‹ Und Rahna
entgegnete: ›Dann fordere ich jetzt den Lohn für meine Mühe.‹ Sie
schaute sich in der Steinhütte um, packte Magharas ältesten Sohn
und sagte: ›Ich nehme ihn.‹ Maghara flehte die Große Mutter an, ihr
nicht den ältesten Sohn zu rauben, doch die Göttin gab nicht nach.
Da nahm Maghara die Keule ihres Brutpartners und schlug damit nach
Rahna, aber die Keule zersprang in ihren Händen. Als Strafe nahm
die Göttin Maghara die Schönheit und verschwand mit ihrem Sohn. Sie
gab ihm den Namen Hegraz und machte aus ihm einen der größten
Krieger, den diese Welt jemals gesehen hat. Daraus lernen wir,
niemals das eigene Schicksal zu bekämpfen, weil man sonst alles
verliert, was einem lieb und teuer ist.«
Eragon sah, wie über dem östlichen Horizont
die schimmernde Sichel des Mondes aufging. »Erzähl mir von euren
Dörfern.«
»Was denn?«
»Irgendwas. Ich bin auf Hunderte von
Erinnerungen gestoßen, als ich in deinem Geist war und in dem von
Khagra und Otvek. Aber ich kann mich nur an wenige erinnern und das
nur bruchstückhaft. Ich möchte sie gerne verstehen.«
»Ich könnte dir vieles erzählen«, brummte
Garzhvog. Er fuhr mit dem Knochensplitter um einen seiner Reißzähne
und blickte versonnen in die Ferne. »Wir schnitzen die Gesichter
der Bergtiere in Holzpfosten und rammen sie vor unseren Hütten in
den Boden, um böse Geister fernzuhalten. Manchmal kommen mir die
Gesichter fast lebendig vor. Wenn man in eines unserer Dörfer
kommt, meint man, ihre Blicke auf sich zu spüren...« Der Knochen
zwischen den Fingern des Urgals hielt einen Moment inne, dann
setzte er sein ruckartiges Auf und Ab fort. Ȇber den Eingang
unserer Hütten hängen wir das Namna, einen handbreiten
Stoffstreifen. Die eingewebten farbigen Muster erzählen die
Geschichte der Familie, die in der Hütte wohnt. Nur unsere ältesten
und geschicktesten Weber dürfen ein Namna ergänzen oder ausbessern,
falls es beschädigt wurde.« Der Knochensplitter verschwand in
Garzhvogs Faust. »Wer einen Brutpartner hat, knüpft mit ihm in den
Wintermonaten an dem Teppich, der bei uns vor der Feuerstelle
liegt. Seine Herstellung dauert mindestens fünf Jahre. Wenn der
Teppich fertig ist, weiß man, ob man mit seinem Brutpartner eine
gute Wahl getroffen hat.«
»Ich habe nie eines eurer Dörfer gesehen«,
sagte Eragon. »Sie müssen gut versteckt sein.«
»Ja, und gut verteidigt werden sie auch. Die
wenigsten, die unsere Heimat sehen, überleben lange genug, um davon
zu berichten.«
Eragon sah dem Kull fest in die Augen und
legte etwas Schärfe in seine Stimme: »Wie hast du unsere Sprache
erlernt, Garzhvog? Hat ein Mensch unter euch gelebt? Habt ihr
menschliche Sklaven?«
Garzhvog hielt Eragons Blick stand. »Wir
sind keine Sklavenhalter, Feuerschwert. Eure Sprache habe ich dem
Bewusstsein der Männer entrissen, gegen die ich gekämpft habe, und
das Wissen mit dem Rest meines Stammes geteilt.«
»Du hast viele Menschen getötet, nicht
wahr?«
»Du hast viele Urgals getötet, Feuerschwert.
Aus diesem Grund müssen wir Verbündete bleiben, denn sonst wird
mein Volk aussterben.«
Eragon verschränkte die Arme. »Als Brom und
ich die Ra’zac verfolgten, kamen wir durch Yazuac, ein Dorf am
Fluss Ninor. In der Dorfmitte fanden wir einen riesigen
Leichenberg. Ganz oben lag ein aufgespießtes Baby. Es war das
Schrecklichste, was ich je gesehen habe. Und es waren Urgals, die
dieses Blutbad angerichtet haben.«
»Bevor ich meine Hörner bekam«, erzählte
Garzhvog, »nahm mich mein Vater mit zu einem Besuch in eines
unserer Dörfer in den westlichen Ausläufern des Buckels. Als wir
dort ankamen, fanden wir nur noch die Leichen der Dorfbewohner. Die
Menschen aus Narda hatten von der Existenz des Dorfes erfahren und
einen Soldatentrupp geschickt, der die Urgals mitten in der Nacht
überraschte. Niemand entkam. Sie wurden gefoltert, verbrannt,
niedergemetzelt... Es ist wahr, dass wir den Kampf lieben wie kein
anderes Volk, Feuerschwert, und das hat unsere Zahl immer wieder
dezimiert. Unsere Frauen nehmen keinen Gehörnten als Brutpartner,
solange er sich nicht in der Schlacht bewiesen und mindestens drei
Feinde getötet hat. Und die Freude, die man im Kampf verspürt,
gleicht keinem anderen Gefühl. Aber nur weil wir den Kampf lieben,
bedeutet das nicht, dass wir uns nicht unserer Fehler bewusst sind.
Galbatorix wird uns alle töten, falls er die Varden besiegt. Und
solltet ihr den schlangenzüngigen Verräter stürzen, wird unser Volk
von dir und Nasuada ausgelöscht, wenn wir uns nicht von Grund auf
ändern. Ist es nicht so, Feuerschwert?«
Eragon nickte zögerlich. »Gut
möglich.«
»Deshalb ist es falsch, ewig vergangenes
Unrecht anzuprangern. Wenn wir nicht vergessen können, was sich
unsere Völker in der Vergangenheit angetan haben, dann wird es
zwischen Menschen und Urgals niemals Frieden geben.«
»Falls wir Galbatorix besiegen und Nasuada
euch das versprochene Land gibt, was sollen wir dann tun, wenn eure
Kinder in zwanzig Jahren wieder anfangen, zu morden und zu
plündern, um eine Brutpartnerin für sich gewinnen zu können? Du
kennst die Geschichte deines Volkes, Garzhvog, und du weißt, dass
es immer so gekommen ist, wenn die Urgals ein Friedensabkommen
geschlossen haben.«
Mit einem tiefen Seufzer sagte der Kull: »In
diesem Fall können wir nur hoffen, dass jenseits des Ozeans noch
andere Urgals leben, die klüger sind als wir, denn uns wird es dann
nicht mehr geben.«
In dieser Nacht sprach keiner mehr ein Wort.
Garzhvog drehte sich auf die Seite und schlief auf dem Boden ein.
Eragon hüllte sich in seinen Umhang, und mit dem Rücken an den
Baumstumpf gelehnt, beobachtete er den Lauf der Sterne, während er
langsam in seine Wachträume hinüberglitt.
Gegen Ende des nächsten Tages kam das
Beor-Gebirge in Sicht. Anfangs waren die Berge nicht mehr als
geisterhafte Schatten am Horizont, gezackte weiße und purpurne
Flächen. Aber als der Abend näher rückte, zeichneten sich
allmählich genauere Konturen ab. Am Fuß der Berge konnte Eragon die
dunklen Wälder erkennen, darüber die schnee- und eisbedeckten
Steilhänge und noch weiter oben die kahlen grauen Felsgipfel. Sie
lagen so hoch, dass dort keine Pflanzen mehr wuchsen und auch kein
Schnee mehr fiel. Wie beim ersten Mal, als er das Beor-Gebirge
erblickt hatte, überwältigte ihn seine schiere Größe. Die Berge
waren im Durchschnitt zehn Meilen hoch, einige noch höher. Sein
Verstand sagte ihm, dass es etwas so Gewaltiges gar nicht geben
konnte, und doch wusste er, dass seine Augen ihn nicht
betrogen.
Eragon und Garzhvog legten in dieser Nacht
keine Pause ein, sondern rannten unentwegt weiter. Am Morgen wurde
es zwar hell, aber wegen der Bergriesen dauerte es bis zum Mittag,
bis zwischen den Gipfeln die ersten Sonnenstrahlen hervorbrachen
und breite Lichtschneisen über das noch schattengraue Land warfen.
Eragon blieb einige Minuten am Ufer eines Baches stehen und
betrachtete in stiller Bewunderung das Schauspiel.
Während sie neben den Bergen entlangeilten,
fühlte sich Eragon mit zunehmendem Unbehagen an seine Flucht von
Gil’ead nach Farthen Dûr zusammen mit Murtagh, Saphira und Arya
erinnert. Er glaubte sogar, die Stelle wiederzuerkennen, an der sie
nach der Durchquerung der Hadarac-Wüste ihr Nachtlager
aufgeschlagen hatten.
Die langen Tage und noch längeren Nächte
vergingen zum einen unerträglich langsam, gleichzeitig aber auch
überraschend schnell. Jede Stunde glich der vorangegangenen, was
Eragon nicht nur das Gefühl gab, als würde ihre Tortur niemals
enden, sondern auch als hätte es sie zum großen Teil gar nicht
gegeben.
Als er und Garzhvog die gewaltige Schlucht
erreichten, die die Bergkette auf mehrere Meilen von Norden nach
Süden spaltete, folgten sie ihr und eilten zwischen den kalten,
gleichgültigen Gipfeln hindurch. Am Bärenzahnfluss - der aus dem
engen Tal kam, das nach Farthen Dûr führte - wateten sie durch das
eisige Wasser und hielten sich weiter nach Süden.
In der Nacht, bevor sie sich ostwärts ins
eigentliche Gebirge wagen würden, schlugen sie ihr Lager an einem
kleinen Teich auf und ruhten sich aus. Mit seiner Schleuder erlegte
Garzhvog einen weiteren Hirsch, diesmal einen Bock, und beide
konnten sich satt essen.
Später saß Eragon vornübergebeugt da und
flickte ein Loch im Schaft seines Stiefels, als ihn ein
unheimliches Heulen aufschreckte und seinen Pulsschlag zum Rasen
brachte. Er starrte in die Dunkelheit und konnte die Umrisse eines
riesigen Tieres erkennen, das am steinigen Teichufer
entlangtrottete.
»Garzhvog«, flüsterte Eragon, langte nach
seinen Sachen und zog das Schwert.
Der Kull legte einen faustgroßen Stein in
die Schleuder, richtete sich zu seiner vollen Größe auf und brüllte
seine trotzige Herausforderung in die Nacht hinaus, bis das Land
davon widerhallte.
Das Tier hielt inne, dann näherte es sich
langsamer, schnüffelte hier und dort am Boden. Als es ins Licht des
Feuers trat, stockte Eragon der Atem. Vor ihnen stand ein
graupelziger Wolf, der so groß war wie ein Pferd, mit Fängen wie
Säbel und gelb glühenden Augen, die jeder ihrer Bewegungen folgten.
Die Beine hatten den Umfang von Faustschilden.
Ein
Shrrg!, dachte Eragon.
Als der Riesenwolf das Lager trotz seiner
Größe geschmeidig und fast lautlos umkreiste, überlegte Eragon, wie
die Elfen wohl mit so einem wilden Tier umgehen würden, und sagte
dann in der alten Sprache: »Bruder Wolf, wir wollen dir nichts
Böses. Heute Nacht jagen wir nicht, wir wollen uns nur ausruhen.
Gerne teilen wir mit dir unser Fleisch und die Wärme unseres
Feuers.«
Während Eragon sprach, hielt der Shrrg inne
und drehte die Ohren nach vorn.
»Feuerschwert, was machst du?«, grollte
Garzhvog.
»Greif ihn nur an, wenn er es zuerst
tut.«
Der Riesenwolf zuckte mit der großen
feuchten Nase. Er wandte den Zottelkopf zum Feuer, offenbar an den
tanzenden Flammen interessiert. Dann schlich er zu den
Fleischresten und Innereien, die am Boden verstreut lagen, wo
Garzhvog den Hirsch ausgenommen hatte. Er schnappte sich einen
Brocken und verschwand ohne einen weiteren Blick im Dunkel der
Nacht.
Eragon entspannte sich und schob sein
Krummschwert zurück in die Scheide. Garzhvog hingegen blieb mit
gefletschten Zähnen stehen und spähte und lauschte nach
verdächtigen Bewegungen oder Geräuschen in die sie umgebende
Finsternis.
Bei Tagesanbruch machten sie sich wieder auf
den Weg und rannten ostwärts in das Tal, das sie zum Berg Thardûr
bringen würde.
Als sie sich nun unter dem Geäst des dichten
Waldes bewegten, der das Gebirgsinnere überzog, wurde es merklich
kühler, und das weiche Nadelbett am Boden dämpfte ihre Schritte.
Die hohen dunklen Bäume schienen sie zu beobachten, während sie
sich ihren Weg zwischen den dicken Stämmen suchten und den aus der
feuchten Erde ragenden Wurzeln, die sich zwei, drei, vier Fuß in
die Höhe wanden. Große schwarze Eichhörnchen tollten auf den Ästen
herum. Eine dicke Moosschicht bedeckte die umgestürzten Baumstämme.
Farn, Fingerhutbeeren und andere Pflanzen gediehen neben Pilzen
jeder Form, Farbe und Größe.
Die Welt wurde eng, sobald Eragon und
Garzhvog sich vollends in dem lang gezogenen Tal befanden. Die
gigantischen Berge schienen von beiden Seiten auf sie zuzustürzen
und sie zu bedrängen. An den Bergrücken hingen vereinzelt
Wolkenfetzen, doch der Himmel war nur ein ferner, unerreichbarer
blauer Streifen.
Am frühen Nachmittag erschallte zwischen den
Bäumen ein grauenvolles Gebrüll, woraufhin sie ihre Schritte
verlangsamten. Eragon zog sein Schwert, Garzhvog hob einen Stein
auf und lud damit seine Schleuder.
»Ein Höhlenbär und Nagran«, erklärte der
Kull. Ein wütender, schriller Schrei, der dem Schaben von Metall
auf Metall ähnelte, unterstrich seine Worte. »Wir müssen uns
vorsehen, Feuerschwert.«
Sie gingen vorsichtig weiter und entdeckten
bald die Tiere mehrere hundert Fuß entfernt am Hang. Eine Rotte
rötlicher Riesenwildschweine mit dicken, geschwungenen Stoßzähnen
sprang in einem kreischenden Durcheinander vor einer gewaltigen
Masse silberbraunen Fells herum, die hakenförmige Krallen und weiß
schimmernde Reißzähne besaß und sich mit tödlicher Schnelligkeit
bewegte. Anfangs ließ Eragon sich durch die Entfernung täuschen.
Doch dann verglich er die Tiere mit den Bäumen daneben, und ihm
wurde klar, dass ein Shrrg neben den Wildschweinen klein gewirkt
hätte und der Höhlenbär fast so groß war wie ihr Haus im
Palancar-Tal. Die Nagran hatten dem Bär einige blutige Wunden
zugefügt, aber das schien ihn nur noch wütender zu machen. Auf den
Hinterbeinen stehend, brüllte er, fegte mit seiner massigen Pranke
eines der Wildschweine um und riss ihm die borstige Haut auf.
Dreimal versuchte es hochzukommen, aber der Bär schlug es immer
wieder zu Boden, bis das Nagra reglos liegen blieb. Während der
Koloss sich über seine Beute hermachte, verschwanden die restlichen
Riesenwildschweine zwischen den Bäumen und flohen den Berg
hinauf.
Beeindruckt von der Kraft des Bären, folgte
Eragon Garzhvog, als der langsam zwischen den Bäumen hervortrat und
dadurch in das Blickfeld des Bären geriet. Das Tier hob die
blutverschmierte Schnauze und schaute aus kleinen Knopfaugen zu
ihnen herab. Dann schien es zu beschließen, dass sie keine Gefahr
darstellten, und fraß weiter.
»Ich glaube, selbst Saphira käme gegen solch
ein Ungetüm nicht an«, murmelte Eragon.
Garzhvog knurrte leise. »Dein Drache kann
Feuer speien. Ein Höhlenbär nicht.«
Die beiden ließen den Bär nicht aus den
Augen, bis die Bäume ihn verdeckten, und auch dann senkten sie die
Waffen nicht, da sie nicht wussten, welche Gefahren als Nächstes
auf sie warteten.
Es war schon später Nachmittag, als sie ein
ganz anderes Geräusch vernahmen: Lachen. Eragon und Garzhvog
blieben stehen. Der Kull deutete stumm in die Richtung, aus der die
Laute kamen, und schlich dann überraschend geschmeidig durch eine
Wand aus dichtem Gestrüpp darauf zu. Eragon folgte dem Urgal.
Durch die Zweige eines Hartriegelstrauchs
konnten sie sehen, dass jetzt ein ausgetretener Pfad die Talsohle
entlangführte. Am Rand spielten drei Zwergenkinder: Sie bewarfen
sich mit Stöckchen und lachten vergnügt. Erwachsene waren nirgends
zu sehen. Eragon schlich leise zurück, blickte prüfend zum Himmel
und entdeckte etwa eine Meile talaufwärts mehrere weiße
Rauchfahnen.
Ein Ast brach, als Garzhvog sich vor ihm
hinhockte, um mit ihm auf Augenhöhe zu sein. »Hier verlasse ich
dich, Feuerschwert«, verkündete der Kull.
»Du begleitest mich nicht bis zur Festung
Bregan?«
»Nein. Meine Aufgabe war, auf dich
aufzupassen. Wenn ich mitgehe, werden die Zwerge dir nicht das
nötige Vertrauen entgegenbringen. Der Thardûr ist ganz nah, und ich
bin sicher, niemand wird es wagen, dich auf der kurzen Strecke bis
dorthin anzugreifen.«
Eragon rieb sich den Nacken und blickte
zwischen den Rauchfahnen im Osten und Garzhvog hin und her. »Läufst
du direkt zurück zu den Varden?«
»Ja, aber vielleicht nicht ganz so schnell
wie auf dem Hinweg«, sagte der Kull mit einem leisen Lachen.
Eragon wusste nicht so recht, was er sagen
sollte. Mit der Stiefelspitze stieß er gegen das Ende eines
verrotteten Baumstammes und gab damit den Blick auf zahllose weiße
Larven frei, die sich unter der Rinde in ihren Gängen wanden. »Gib
acht, dass dich kein Shrrg oder Höhlenbär auffrisst, ja? Sonst
müsste ich nämlich das Ungetüm jagen und töten, und dafür fehlt mir
die Zeit.«
Garzhvog legte seine Fäuste an die knochige
Stirn. »Mögen deine Feinde die Flucht vor dir ergreifen,
Feuerschwert.« Damit erhob er sich und eilte mit langen Sätzen
davon. Bald hatte der Wald die riesenhafte Gestalt
verschluckt.
Eragon sog die frische Bergluft ein, dann
kämpfte er sich erneut durchs Unterholz. Als er zwischen den Farnen
und Hartriegelsträuchern heraustrat, erstarrten die winzigen
Zwergenkinder und blickten ihn argwöhnisch an. Die Hände seitlich
erhoben, sagte er: »Ich bin Eragon Schattentöter, Sohn von Niemand.
Ich möchte zu Orik, Sohn von Thrifk auf der Festung Bregan. Führt
ihr mich dorthin?« Nachdem die Kinder nicht reagierten, begriff er,
dass sie ihn nicht verstanden hatten. »Ich bin ein Drachenreiter«,
sagte er langsam und deutlich. »Eka eddyr
aí Shur’tugal... Shur’tugal …
Argetlam.«
Da erstrahlten die Augen der Kleinen und
ihre Münder formten runde Laute des Erstaunens. »Argetlam!«, riefen
sie. »Argetlam!« Mit freudigem Gebrüll rannten sie auf ihn zu,
schlangen ihre kurzen Ärmchen um seine Beine und zogen an seinen
Kleidern. Eragon blickte auf sie hinab und merkte, wie sich sein
Gesicht zu einem breiten Grinsen verzog.
Die Kinder nahmen ihn bei den Händen und er
ließ sich von ihnen den Pfad entlangziehen. Obwohl er sie nicht
verstand, plapperten die Kleinen in der Zwergensprache unentwegt
auf ihn ein, aber er genoss es, dem lustigen Gebrabbel zu
lauschen.
Als ihm eines der Kinder - ein Mädchen, wie
er vermutete - die Arme entgegenreckte, hob er es hoch und setzte
sich die Kleine auf die Schultern. Ihr freudiges helles Lachen
zauberte erneut ein Lächeln auf sein Gesicht. Beschwingt machte er
sich mit seiner Zwergeneskorte auf den Weg zum Berg Thardûr, zur
Festung Bregan und zu seinem Freund und Stiefbruder Orik.